Entdecken-Schmökern Lesefutter: Das Glück im Großen und Ganzen

Die wichtigen Dinge besprechen die Freundinnen Molly, Anke und Marie auf ihrem Balkon. Manchmal muss man aber auch raus aus der Stadt, und im Zug lässt es sich mindestens ebenso gut plaudern. Ein Auszug aus Teresa Kirchengasts Roman „Das Glück im Großen und Ganzen“.

Molly reckte ihre Nase hoch in die Luft, als würde sie einen im Zug nicht vorhandenen Fahrtwind genießen oder auf das Leben pfeifen. Selbst wenn kein Luftzug ihre Nase umspielte, war sie davon überzeugt, dass allein diese Pose und nur diese Pose angemessen war, wenn man verreiste. „Wir haben noch zwei Stunden Zugfahrt vor uns. Wir müssen uns die Zeit vertreiben“, beschloss sie. „Spielen wir doch ‚Was würdest du eher tun?‘“

Anke stöhnte. Sie verabscheute dieses Spiel im selben Ausmaß, in dem Molly es mochte.

„Würdest du lieber dein ganzes Leben nur noch Popcorn oder nur noch Salat essen?“, legte Molly los.

„Nichts davon“, brummte Anke. Molly warf ihr einen bösen Blick zu. „Nussbeugerl“, antwortete Marie. Molly seufzte und fuhr fort: „Würdet ihr lieber eine Stunde nackt in einem gut frequentierten Schaufenster stehen und dafür für immer alle Lebensmittel gratis bekommen oder sie bezahlen?“ „Mit Bikini könnten wir darüber reden“, meinte Anke.

„Wo wäre das Schaufenster genau, wären da auch noch andere Nackte und welche Lebensmittel sind inkludiert?“, erkundigte sich Marie.

Molly stöhnte. „Ihr kapiert das echt nicht, man kann das mit euch nicht spielen!“

„Ich wollte es auch nicht spielen“, sagte Anke.

„Was willst du dann, du willst doch nie irgendwas“, warf Molly ihr vor.

„Ich will ein paar Antworten“, erwiderte Anke patzig.

„Meinetwegen, jeder hat eine Frage frei“, entschied Molly. „Wir sind alle drei nicht auf der Nudelsuppe dahergeschwommen, wir werden wohl Antworten finden.“

„Ich würde mich als Einzelgängerin bezeichnen“, begann Anke.

„Einspruch“, unterbrach Molly sie. „Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Eine Feststellung im Übrigen, die ich doch bezweifeln und näher beleuchten wollen würde.“

Anke schnaubte. „Ich war ja auch noch nicht fertig. Also: Ich würde mich als Einzelgängerin bezeichnen und glaube deshalb, ich kann in einer Liebesbeziehung nur mit einem Einzelgänger glücklich werden. Sicher bin ich mir da aber nicht. Ich meine … was ergeben zwei Einzelgänger?“

„Einen Doppelgänger?“, schlug Marie vor.

„Gute Frage eigentlich, Anke“, lobte Molly und dachte nach. „Ich denke, zwei Einzelgänger kennen sich im jeweils anderen aus und … solange sich ihre Wege oft genug kreuzen auf ihren einzelnen Gängen und sie es zulassen, zweitweise ein Doppelgänger zu sein, kann das ganz gut funktionieren.“

Anke nickte und sah der Landschaft beim Vorbeiziehen zu. Ein Kind, das auf einer Schaukel hin- und herschwang, winkte dem Zug hinterher. Sie konnte nicht fassen, dass in allen diesen Häusern Menschen wohnten, die sie nicht kannte, die ein Leben lebten, von dem sie nichts ahnte. All diese parallel zueinander verlaufenden Existenzen erschreckten sie und verursachten ein Gefühl von Bedeutungslosigkeit.

„So, meine Frage“, meldete sich Molly. „Sind eloquent und goschert dasselbe?“

„Nein“, sagte Anke.

„Nein“, stimmte Marie zu.

Molly runzelte die Stirn. „Da seid ihr jetzt aber billig davongekommen.“

„Würdet ihr uns als glückliche Menschen bezeichnen?“, fragte Marie mit einer nicht zu knapp bemessenen Portion Zweifel in der Stimme.

Anke und Molly dachten nach, was man daran bemerken konnte, dass Anke an ihrer Lippe kaute und Molly sich eine Locke um den Finger wickelte.

Schließlich meinte Molly: „Unterm Strich lachen wir alle weit mehr als wir weinen, also sind wir wohl glückliche Menschen.“

 


Fotos auf dieser Seite von: Jorghi Poll