Entdecken-Schmökern Lesefutter: Andreas, Weißenfels, 5. November 1985

Zwei Autoren, zwei Leben, zwei Systeme und ein Coming-of-Age in West und Ost. »Nackt auf Usedom« ist die komische und berührende Geschichte eines Briefwechsels zweier Jugendlicher aus Dortmund und Leipzig – und ein Roman, der seine Protagonisten von 1982 bis 2009, von der Pubertät bis ins Erwachsenenalter begleitet.

Es ist so weit: Der Tag meiner Einberufung zur Armee ist da. 18 Monate NVA liegen vor mir. Der Gedanke daran gruselt mich so sehr, dass ich bisher lieber nicht darüber nachgedacht habe, was wohl alles passieren könnte oder was mich erwartet.

Schon die Verabschiedung am Leipziger Hauptbahnhof war sehr deprimierend. Mein Vater fuhr mich mit unserem kleinen Trabbi hin. Unterwegs munterte er mich auf. Mit Sprüchen wie »Mach dir keinen Kopp!« oder »Ach, das schaffste schon!« wollte er wahrscheinlich nicht nur mich beruhigen, sondern auch sich selbst. Als wir dann ankamen und der Moment des Abschieds kam, umarmten wir uns, er schnaufte hörbar aus, sichtlich bemüht, nicht zu heulen, gab mir einen Kuss auf die Stirn und sagte nur: »Mach’s gut, Großer. Und melde dich, wenn du da bist …«

Damit drehte er sich um und ging rasch weg. Ich glaube, dass es ihn genauso schüttelte wie mich, denn ich sah noch, wie er sich mit seinen Händen durchs Gesicht und über die Augen fuhr. Ja, es war ein sentimentaler Moment, und auch ich hatte Pipi in den Augen. Aber, mal ehrlich, ich zog doch nicht in den Krieg. Ich kam ja wieder. Also, zumindest ging ich davon aus. Ich blickte mich um. Da standen doch echt ein paar Typen mit langen Haaren bis zum Arsch. Na, die konnten sich frisch machen. Andererseits: Die Haare mussten ja so oder so runter. Ob nun freiwillig vor der Einberufung oder erst später in der Kaserne, kam am Ende auf dasselbe raus. Allerdings war mein Plan, immer schön unterm Radar zu bleiben. Ich hatte keinen Bock, Stress mit den Offizieren zu bekommen.

Schon im Zug zur Kaserne in Weißenfels fing es an, als uns ein Offizier mitteilte, dass wir ab sofort nicht mehr Zivilisten seien, sondern Mitglieder der Nationalen Volksarmee. Das bedeutet, dass wir Befehle zu befolgen haben. Die zivilen Gesetze gelten nicht mehr, sondern das Militärgesetz. Ja, dachte ich mir, damit hatte ich schon gerechnet, dass das hier kein Schulausflug wird, aber warum der Typ uns gleich so drohen musste, war mir zu hoch. Vielleicht, um gleich klarzustellen, wer der Chef ist und wer nicht. Auch in diesem Punkt war ich nicht überrascht. Rein geschichtlich hat sich diese militärische Tradition seit Anbeginn durchgesetzt. Deshalb finde ich sie ja auch so blöd und überflüssig.

Die im Westen haben es gut. Die können Zivildienst machen. Das ist vielleicht auch nicht so sexy, alten Leuten den Arsch abzuwischen, aber es ist auf jeden Fall sinnvoller. Klar könnte ich hier auch verweigern und zu den Bausoldaten gehen. Aber das ist doch keine echte Alternative! Keine Waffe tragen müssen, aber dafür Schießanlagen bauen? Was ist denn das für eine kranke Logik? Unterm Strich kommt es doch dann aufs Gleiche raus. Und obendrein wäre meine restliche Zukunft beschlossen und fürn Arsch. Die Jungs vom Spatentrupp waren bisher immer auf der Abschussliste der Stasi. Studieren kannste dann vergessen, zumindest erzählen das immer alle.

 

Kaelo Michael Janßen, Thomas Nicolai
Nackt auf Usedom
Roman. Hardcover, 392 S., 23 EUR
ISBN 978-3-947106-95-0
https://satyr-verlag.de 

 

Autorenvita:

Kaelo Michael Janßen ist gebürtiger Dortmunder und Mitglied der Schriftstellervereinigung »42er Autoren«. Zahlreiche Kurzgeschichten von ihm wurden in unterschiedlichen Anthologien veröffentlicht.

Thomas Nicolai, stammt aus Leipzig und ist Comedian, Parodist und Schauspieler. Als Autor entwickelte er die Kinderhörspielserie »Die Märchenmäuse« mit, den Sprachführer »Sächsisch für Anfänger« und übersetzte »Die Simpsons« und »Asterix« ins Sächsische.

 


Fotos auf dieser Seite: Satyr-Verlag | Joerg Lingroen | Bernd Brundert