Entdecken-Schmökern Lesefutter: Kastaniengarten

„Sandstein“, zwei Novellen über Versuche in Sachen Liebe und Politik, über Freundschaft und mangelnden Familiensinn und über die Schwierigkeit, Gebäude und Beziehungen instand zu halten. Zwei Geschichten über die Kraft des Erzählens, Erinnerns und Erfindens.

Es gibt keine Kastanien in der Straße, und das Gebäude sieht aus wie ein kleines Altersheim oder eine große Physiotherapiepraxis. Konrad schaut mal kurz rein, weil er das soll. »Kastaniengarten: Da hat dein Großvater tanzen gelernt«, hat Kari auf den Zettel geschrieben, und Zenzi hat ihm gestern bestätigt, dass man damals bei Papa Bittlich das Tanzen lernte. Nirgendwo sonst. »Soll ich dir die Fotos rausholen? Haben wir alles im Archiv.«

Die Glastür lässt sich öffnen, es gibt eine Art Rezeption, dahinter sitzt eine junge Frau, die aufmunternd lächelt.
»Nur mal schauen«, murmelt Konrad, und sie nickt und zeigt nach rechts.

Da steht eine Saaltür halb offen, Konrad sieht Holzvertäfelungen, Balustraden, eine Empore, Polsterstühle und Polsterbänke an den Seiten, eine Bar. Die Musik klingt nach Bigband, das heißt, sie ist hell, glänzend, satt, sie hat einen exakten unüberhörbaren Viervierteltakt – so viel kann Konrad erkennen. Die Musik ist nicht zu laut, hat aber genug Drive, um die wenigen Paare in Bewegung zu halten, die auf der Tanzfläche verteilt sind.

Aber es ist doch Nachmittag, denkt Konrad, heller Nachmittag, wieso tanzen die am Nachmittag.

Der junge Mann in der Mitte, der freundlich entschieden Kommandos gibt, unterbricht sich selbst, als er Konrad sieht, ist offensichtlich erfreut, lässt die Leute weitertanzen, sagt: »Das ist ja wunderbar. Kommen Sie rein. Ihre Dame, bitte sehr.«
Und schon erhebt sich eine einzelne Dame, eine zierliche Frau mittleren Alters, und geht zielstrebig auf ihn zu. Ihre Bewegung (sie hebt die Arme leicht asymmetrisch) und ihr Kopfnicken sind so eindeutig, dass Konrads Reflexe funktionieren: Wie er es in unglücklichen Jugendtagen gelernt hat, wie er es in alten Filmen gesehen hat, schiebt er eine Hand in die Schulterblattregion der Frau, mit der anderen ergreift er ihre Hand.

So ein Missverständnis ließe sich natürlich schnell, zum Beispiel nach dem Ende dieses Tanzes, aufklären, mit einer netten, leicht bedauernden Bemerkung. Aber wozu? Dieser Foxtrott, falls es einer ist, wird von der Dame sicher und unaufdringlich geführt. Konrad muss nur nachgeben, sich führen lassen, was ihm erstaunlich schnell gelingt, und dann ist es naheliegend, auch noch weiterzumachen, als man zur Rumba übergeht. Vor allem ist es hilfreich, dass der Erbe von Papa Bittlich die Schritte noch einmal langsam vorführt, so dass Konrad mit seiner Tänzerin recht ordentliche Muster auf das Parkett zeichnen kann. Da man ja gerade lernt, ist Smalltalk jetzt nicht nötig oder angebracht, es geht nur um Schritte, Haltung, Taktgefühl.

Konrad gelingt es sogar, sich die anderen Paare kurz anzusehen, die wohl nur für den Augenblick Paare sind, denn, so sagt seine Tänzerin, die sich als Lioba vorgestellt hat, man wechselt immer nach einer Runde von drei oder vier Tänzen, indem der Herr nach rechts weitergeht. So muss er auch die leichtfüßige und taktsichere Lioba verlassen und für eine weitere Rumba-Runde zu einer großen, kraftvoll aussehenden Maren wechseln, die deutlich älter ist als Lioba und die von ihm offenbar Führungsqualitäten erwartet. Auch diese Runde lässt sich bewältigen, auch wenn Konrad nun doch ein wenig schwitzt und unter dem Missverhältnis zwischen Marens massiger Erscheinung und ihrem trägen passiven Tanzstil leidet. Er ist ein kleines Lotsenboot, das ein riesiges Containerschiff manövriert, und damit sie seine Unsicherheit nicht bemerkt, strahlt er sie an wie ein amerikanischer Filmheld, der eine russische Agentin verführen will und muss, um zu überleben.

»Kurze Pause«, ruft der Tanzlehrer, den die Tänzer Joe nennen, und stellt sich hinter die Theke, wo auch das Mädchen von der Rezeption schon steht und Flaschen öffnet.

»Geht aufs Haus«, sagt Joe, der viel zu tun hat, und schiebt ein Glas mit Kastanie spezial (viel Saft mit irgendwas Alkoholischem) zu ihm hin. Konrad hat verstanden, wer er hier ist: der wohl im Netz als Ersatz engagierte Tänzer, der die einzelnen Damen vor allzu langem Herumsitzen bewahren soll.

 

Weiterlesen in: 
Susanne Neuffer 
Sandstein. Zwei Novellen.
240 Seiten, Broschur, 20 EUR 
MaroVerlag, 2022
www.maroverlag.de

 


Fotos auf dieser Seite: Annemarie Goldflam | MaroVerlag