Entdecken-Schmökern Lesefutter: Litiotopia

Ein Roman über das Verlangen nach einer lebenswerten Zukunft, das Ringen um den wertvollsten Rohstoff der kommenden Jahrzehnte und die Abscheulichkeit der Welt.

„Mit Hermano Evo, diesem gewöhnlichen Menschen aus dem Altiplano, der den Mangel und die Erniedrigung von klein auf kannte, der wusste, wie es ist, tagelang zu marschieren, um Salz und Kartoffeln gegen ein wenig Mais und Batterien zu tauschen, und dem die Hilflosigkeit nicht fremd war, wenn das Fieber unaufhörlich stieg und nichts anderes blieb, als Zucker und Coca unter die Achseln zu streichen, in der Hoffnung, der Körper würde von selbst gesunden, begründeten wir uns neu. Er hatte sich aus der Coca-gewerkschaft in Chapare, friedlich und gemäß dem Willen der Mehrheit, an die Spitze unseres Staates gekämpft. Unter dem Jubel der Massen gab er uns alles zurück. Das Öl. Das Gas. Die Minen. Und vor allem das Lithium. Doch noch immer wussten wir nicht, wie wir es nutzen sollten, ohne die geeigneten Technologien. Zähneknirschend gestanden wir uns also ein, dass unsere Zukunft, ohne die Hilfe von außen, für immer brachliegen würde. Und so kam, was kommen musste. Die Verträge mit den Europäern und den Chinesen, die diesmal vor allem uns Bolivianern nutzen sollten, öffneten ihnen alle Tore und nach ein paar Jahren war aus Partnerschaft wieder Beherrschung geworden. Schließlich sind der Federmann und dergleichen ausdauernde und geduldige Wesen, für die zu lügen und zu stehlen keine Vergehen sind. Im Gegenteil.“

Amaru hörte nicht mehr zu, denn was ihn umgab, war so mächtig und vollkommen, dass es seine Wahrnehmung gänzlich an sich band. Diese unermessliche Weite, zum Loslassen auffordernd. Jedweder Bezugspunkt war geschwunden. Die eigene Bewegung nicht mehr wahrnehmbar. Der Salar. Ein vieldimensionaler Raum, ohne Beschränkungen. Amaru war dabei, sich von seinem derzeitigen Selbst zu lösen, davonzugleiten und in der weißen Salzwüste aufzugehen.

Aber Mallki drang zu ihm hindurch und hielt ihn fest. „Verdammt! Wenn da vorne schon so viel Wasser steht, ist der übrige Salar unpassierbar. Es tut mir leid, Amaru. Wir müssen umkehren.“

„Anhalten! Sofort anhalten!“

„Hey, was machst du da? Hör auf! Lass los! Spinnst du?“

„Ich habe gesagt, du sollst anhalten!“ Amaru riss an der Handbremse.

Der Wagen geriet außer Kontrolle, drehte sich quer und driftete über den Grund. Kurz vor der Wasserkante stand er still. Amaru stieß die Tür auf und indem er den ersten Schritt auf die knackende Salzkruste trat, brach eine Urgewalt über ihn herein. Es war ein knallender Impuls im Gehirn, stark genug, um den Spalt zwischen seinen Synapsen endlich zu überbrücken und eine Verbindung zu sich herzustellen. Amaru vergegenwärtigte sich für einen Augenblick seines vergessen geglaubten Lebens. Im wässrigen Abbild der Welt beschaute er, was hinter ihm lag, und er war sich sicher, dass dies der Wirklichkeit entsprach.

Seine intakte Wohnung über den Dächern der Großstadt. Auf dem Schreibtisch blinkende Monitore. Daneben stapelweise Papiere. Tabellen. Graphen. Kurse. Alle steigend. Amaru wandelte durch die weitläufigen, ihm wohlvertrauten Räume und hörte sich am Telefon sprechen: „Aneignen! Alles! Jeder, der sich uns in den Weg stellt, wird vernichtet!“ Dies war zweifellos seine Stimme, doch irgendetwas verfremdete sie. Sie klang nüchtern und unnahbar, fast unmenschlich. Die Klingel läutete. Noch mal und stürmischer. Amaru sah sich selbst die Wohnungstür öffnen. Vor ihm stand der Federmann, mit einer Flasche Cognac. Le Voyage de Delamain. Wie ähnlich sie sich waren. Der Federmann und er. Sie reichten einander die Hände, und der Federmann trat über die Schwelle. Sie setzten sich ins Wohnzimmer, in die schweren Ledersessel. Sie tranken und stichelten im Scherz. Amaru tischte Kokain auf. Er zog Bahn für Bahn. Der Federmann paffte an seiner Zigarre. Wie Partner schwelgten sie im Triumph. Die Könige der Welt.

„Amaru! Jetzt komm her! Wir müssen zurückfahren!“, brüllte Mallki aus dem Wagen heraus.

Die Brücke zwischen Amarus Nervenzellen geriet darüber ins Wanken, stürzte in sich zusammen, und er kehrte verdutzt in den Salar zurück. Was blieb, war die Gewissheit, dass er den Federmann aus seinem früheren Leben kannte und sie zueinander in irgend-einer Beziehung standen. In welcher, konnte er nicht eindeutig sagen. Ihr Händeschütteln und ihr Beisammensein waren zu unterkühlt, um befreundet, und zu innig, um verfeindet zu sein. Er hing seiner Vision nicht lange nach, denn der Salar überwältigte ihn wieder. Amaru strich über den porösen Grund. Jahrmillionen glitten durch seine Finger. Er schöpfte im stillstehenden Wasser und trank aus seinen Handflächen. „Litiotopia!“, schwärmte er.

 

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Poljak Wlassowetz
LITIOTOPIA
Roman, 412 Seiten
Hardcover, 26 EUR
ISBN 978-3-949729-02-7
www.kopfundkragen-verlag.de

 

Poljak Wlassowetz, Tschernobyljahrgang. Zahlreiche Re­cherchereisen haben ihn als Schriftsteller und Politologen u. a. nach Lateinamerika geführt. Er hat mit den Schama­nen in den tropischen Wäldern Boliviens gedacht und erkannt, welch Lebenssinn stiftendes Glücksgefühl ein Mensch in jenem Moment empfindet, wenn er sich dazu entscheidet, an die Zukunft zu glauben. Sein Debütroman Mirovia wurde im Jahr 2014 im Open House Verlag ver­öffentlicht. Poljak Wlassowetz lebt in Berlin. Aktuell schreibt er an seinem dritten Roman mit dem Arbeitstitel Ukrajina.