Entdecken-Schmökern Lesefutter: LIEBE IN SINGAPUR

Amanda Lee Koe erzählt in knapper, rasanter Sprache über mögliche und unmögliche Formen der Liebe im Schmelztiegel Singapur, wo Menschen unterschiedlicher Religionen, Ethnien und sozialer Klassen aufeinandertreffen.

Amanda Lee Koe: Ministerium für öffentliche Erregung. Storys. Aus dem Englischen von Zoë Beck. 240 Seiten, 22,00 Euro. ISBN 978-3-95988-018-3. www.culturbooks.de

 

Bukit Timah Hill

Der Bär sagt: Wir hatten einen Wald hinterm Haus. Im Sommer hat er gebrannt.

Der Bär sagt: Ich habe ihn nie ganz erkundet.

Der Bär sagt: Na ja, ich meine, das waren viereinhalb Hektar.

Er hatte ganz beiläufig gefragt, ob es hier in Singapur Naturpfade gibt. Ich sagte, wir könnten es mit dem Bukit Timah Hill versuchen, und dann wurde mir klar, dass ich mich gerade mit ihm verabredet hatte, und bevor ich erstarrte, sagte er: Klar. Während ich Wegbeschreibungen heraussuche, stoße ich auf eine unwichtige Tatsache: Es ist der höchste Punkt auf dieser Insel mit einer Höhe von 163,63 Metern. Ich fühle mich jetzt ein bisschen komisch, weil, wenn ich mir das Wort Höhe vorstelle, dann denke ich an dünne Luft und die Notwendigkeit, sich zu akklimatisieren.

Er öffnet seine Tasche – Ranzen, sagt er – und holt ein Plastiktütchen raus.

Für dich. Studentenfutter.

Es ist eine Mischung aus Mandeln, Rosinen, Erdnüssen, M&Ms und Müsli, und irgendwie denke ich, dass es das Niedlichste überhaupt ist.

Wir sitzen auf einer Baumwurzel und teilen uns das Studentenfutter, sehen dicke rote Ameisen an uns vorbeilaufen.

Er erzählt mir, dass auf den Naturpfaden seiner Kindheit weißschwänzige Hirsche und rote Füchse zu sehen waren. Ein kleines Chamäleon taucht auf und geht langsam vor uns vorbei wie eine Art visuelles Stichwort oder ein Untertitel. Ich muss darüber lachen. Irgendwie versteht er es und lacht auch, ein tiefes, kehliges Lachen.

Ich habe noch nie einen Ausflug speziell zu irgendeinem Park oder Hügel in Singapur gemacht, sage ich, als wir uns an der Bushaltestelle trennen. Das war mir absolut klar, sagt er. Welches Mädchen würde schon so was zum Wandern anziehen? Der Bär zeigt auf meine Vintage-T-Strap- Pumps, mein Sommerkleid mit Sweetheart-Ausschnitt.

Wandern? Wenn der Hügel weniger als zweihundert Meter hoch ist und alle Wege geteert sind?, sage ich. Ich muss dich irgendwann mal zum Fort Canning Park mitnehmen – da ist eine Rolltreppe an den Hügel gebaut, kannst du dir das vorstellen?

Wie wär’s damit, sagt er. Wir gehen in jeden Park auf dieser Insel.

Jeden Park auf dieser Insel?

Jeden Park auf dieser Insel.

 

Clementi Woods

Als ich nach Hause in die Wohnung im zehnten Stock in Clementi Woods komme, fahre ich meinen Computer hoch. Auf dieser Insel, die sich Gartenstadt nennt, gibt es zwölf Stadt- und Naturerbeparks, dreizehn Gemeindeparks, sechs Küstenparks, fünf Southern-Ridges-Parks, sechs Naturparks, vier Naturschutzgebiete, sieben flussnahe Parks, den Botanischen Garten, den Zoologischen Garten und die Gardens by the Bay. Ich erstelle eine Karte, markiere sie alle und hänge sie an die Pinnwand über meinem Schreibtisch.

Beim Abendessen frage ich meine Eltern nach der Landfläche unserer Wohnung. Landfläche, von unserer Wohnung im zehnten Stock, derselbe seltsame Klang wie bei »eine Höhe von 163,63 Metern«. Mit einem Mal kommt es mir vor, als sei ich in all den Jahren durch die Luft gelaufen, dass jeder Wohnblock eine Art Soufflé ist. Die ganze Luft, die durch Fenster, Balkone, offene Türen strömt: Wir sind übereinandergeschichtet, zu einer Art Gemeinschaftsteig verarbeitet. Der Kanto-Pop-Karaoke-Beat von nicht einem, sondern drei Stockwerken unter uns, der Geruch von rendang curry aus dem benachbarten Küchenfenster der malaiischen Familie.

Ungefähr siebenhundert Quadratfuß, sagt meine Mutter.

Warum?

Ich gebe keine Antwort. Ich rechne es online um. 700 Quadratfuß = 0,00650321 Hektar.

 

Autorinnenvita

Amanda Lee Koe lebt in Singapur und New York. Sie arbeitete als Literaturredakteurin für den Esquire. Ihr Buch »Ministerium für öffentliche Erregung« erhielt den Singapore Literature Prize, den Singapore Book Award, stand auf Platz 1 der Litpom-Bestenliste und der Shortlist des Internationalen Literaturpreis Berlin und wurde unter die 10 besten Bücher Singapurs der letzten 50 Jahre gewählt.

Ein Ausschnitt aus der Geschichte »Jeder Park auf dieser Insel«. Hier geht's direkt zum Titel im Verlag.