Entdecken-Schmökern Weitermachen mit der ukrainischen Bahn

Panzer auf Spezialzügen, von Russland aus auf dem Weg an die Grenze zur Ukraine – diese Bilder gingen vor einem Jahr um die Welt. Mit den Panzern kamen die Menschen, die sie bedienten. Auch auf ukrainischer Seite wurde das Militär in die von Russland angegriffenen Gebiete gebracht, die Zivilbevölkerung wurde evakuiert, die verbliebenen Menschen mit dem Nötigsten versorgt – alles mit der Eisenbahn.

Alexander Kamyshin ist der Chef des ukrainischen Eisenbahnunternehmens Ukrsalisnyzja. Der Enddreißiger sorgt auch in Kriegszeiten für den Betrieb und bewährt sich – wie der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj auch – als kompetenter Krisenmanager. Da der Luftraum gesperrt ist, ist die Bahn derzeit das sicherste, oft auch das einzige Verkehrsmittel. Obwohl die meist elektrifizierten Loks durch Russlands Angriffe auf die Energieinfrastruktur teilweise lahmgelegt sind, fahren die meisten Züge nach nur wenigen Stunden wieder. So wurden auf dem Höhepunkt der Evakuierungen 192.000 Menschen pro Tag befördert.

Kamyshin ist dabei Botschafter eines modernen, mutmachenden Führungsstils, der nah an der Basis operiert. Auf Social Media gibt er Einblicke in seinen Arbeitsalltag: In den zurückeroberten Gebieten wäre es zu gefährlich, die Bahnstrecken einfach wieder zu befahren; sie müssen auf Minen, Blindgänger, Schäden an den Gleisen und sonstige Hindernisse kontrolliert werden. So geht es mit Fachleuten im Schritttempo auf den Strecken entlang, mal wurden die Gleise aufgeschüttet, damit russische Panzer sie ohne Schwierigkeiten überqueren können, mal wird ein Blindgänger, älter als der Bahn-CEO selbst, mit einem lauten Knall entschärft. Andernorts werden solche Schäden durch eigene Militäreinheiten beseitigt, hier geht der zivile Bahnchef pragmatisch voran.

Zudem war die Bahn schon lange nicht mehr ein so rege genutztes Verkehrsmittel für Staatsoberhäupter und die Mächtigen dieser Welt, die der Ukraine durch einen Besuch den Rücken stärken wollen. Auch Selenskyj fährt mit dem Zug durch sein Land, sehr zum Leidwesen seines Sicherheitspersonals, das in ständiger Sorge vor einem Angriff auf das Leben des Präsidenten ist. Doch Selenskyj, der ohne Helm und Schutzweste zur Bevölkerung im umkämpften Gebiet fährt, bewertet solche Besuche als wichtiger für die Moral aller als seine eigene Sicherheit. Die Zugreisen sind allerdings auch eine willkommene Abwechslung im eng getakteten Arbeitsalltag des Präsidialstabs, eine Entschleunigung im Kriegsalltag. Zumal der Zug absichtlich besonders langsam fährt, damit im Falle eines Bombeneinschlags der Schaden möglichst gering ist.

Über die Wege des Militärs schweigt man sich aus, doch Hilfsgüter werden ebenfalls per Schiene transportiert. Das Streckennetz ist, wie in den übrigen Ländern der ehemaligen Sowjetunion, überwiegend in der russischen Breitspur gebaut, also 85 Millimeter breiter als der EU-Standard. Um die Verladeprozesse auch für die Exporte (vor allem für Getreide) zu erleichtern, baut die ukrainische Eisenbahn ihre Verbindungen zu verbündeten Nachbarländern selbst in Kriegszeiten weiter aus. Der komplette Umbau des 22.000 Kilometer langen Streckennetzes ist derzeit nicht vorgesehen. Geopolitisch würde es ein weiteres Abrücken von Russland bedeuten.

Zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Textes ist der Krieg noch nicht beendet. Kamyshin und Selenskyj sind am Leben, doch mehr als 200 Bahnangestellte wurden getötet, an die 500 verletzt. Die Bahnhöfe sind Orte des Abschieds für diejenigen, die den Kriegsdienst nicht verweigern dürfen und ihre Liebsten in sicherere Gegenden schicken. Bahnhöfe und U-Bahn-Schächte sind aber gleichzeitig temporäre Schutzräume bei Fliegeralarm, Anlaufstellen für Notleidende und zuletzt Orte der Hoffnung auf ein Wiedersehen.

 

Der Twitter-Account des ukrainischen Bahn-CEOs: www.twitter.com/AKamyshin

 


Text: Anna Büsching | Fotos: Shutterstcok/Ruslan Lytvyn