Entdecken-Schmökern Lesefutter: Grenzbahnhof

Dieser Roman begleitet die Lebensstationen von Menschen aus der brandenburgischen Provinz und erzählt von ihrer Heimat, dem Oderbruch. Von den Fünfzigerjahren in der jungen DDR bis in die deutsche Nachwendezeit der Neunziger.

Weihnachten 1953 / Kohleklau auf dem Bahnhof Kietz

Um halb drei machen sich Hartmut und Karl-Heinz auf den Weg zum Bahnhof. Im Abfertigungsraum auf der Giebelseite hat Karl-Heinz seinen Arbeitsplatz. Sie nehmen sich den Schlüssel für den Lokschuppen vom Haken und queren die Gleise dort hin. Karl-Heinz schließt die mannshohe Schlupftür rasch auf. Drinnen ist es so bitterkalt wie draußen. Hartmut erklimmt die paar Sprossen zum Führerstand. Er kennt sich nicht besonders aus mit der Rangierlok. Also, wie war das nochmal, überlegt er kurz. Erst den Batteriehauptschalter umlegen und Strom auf die Glühkerzen geben. Dann lässt er mit einem Knopfdruck den schweren Motor an. Kräftig dreht der elektrische Starter. Erst langsam und dann immer schneller bewegen sich die Kolben im kalten Motoröl. Die Einspritzpumpe drückt den Dieselnebel in jeden Zylinder und dumpf blubbernd entfaltet der große Motor sein Eigenleben. Mehr als einhundert PS geballte Maschinenkraft laufen jetzt rund. Aus dem Auspuffrohr steigen blaue Rauchwolken zur Decke auf. Karl-Heinz hat indessen das Werkzeug, eine Leiter und die Feuerkörbe bereitgestellt. Den Koks nimmt er in einem Jutesack mit. Schnell ist alles im Führerstand verstaut. Die großen Torflügel werden geöffnet und Hartmut fährt die Lok ins Freie. Karl-Heinz schließt das Tor und steigt zu seinem Schwager in den Führerstand. Zum Gleis 6, wo der Kohlenzug steht, ist es nicht weit. Er legt die Handweiche zum Gleis 6 um und rangiert die kleine Lok an den ersten Wagen. Die Handgriffe für das Abkoppeln des Wagens sind tausendfach praktiziert. Kurze Zeit später hängt der Waggon mit dreißig Tonnen bester schlesischer Steinkohle an der Rangierlok. Mit Tempo zwanzig geht es in Richtung Westtangente des Gleisdreiecks. Genau dort, wo der befestigte Feldweg das Gleis kreuzt, stellen sie den Waggon ab. Die Lok wird angebremst, der Motor läuft weiter. Die Feuerkörbe mit Koks werden auf der vorgesehenen Entladeseite abgestellt und angezündet.

Hartmut nimmt sich Vorschlaghammer, Brechstange und Stahldorn, klettert auf die Leiter und beginnt, die beiden zweiflügligen Waggontüren zu öffnen. Das ist recht mühsam und nicht ganz ungefährlich, weil die Ladung von innen gegen die Türen drückt. Mit dem Hammer lassen sich die Verschluss-Riegel aber ganz gut nach oben aus der Öse klopfen und eine halbe Stunde später ist das Werk vollbracht. Die Türflügel stehen offen und der erste große Kohleschwung hat sich auch schon aus dem Waggon auf den gefrorenen Boden ergossen. Die beiden Männer müssen nicht lange warten, bis sich die ersten Kietzer mit ihren Handwagen vorsichtig dem Entladeplatz nähern. Mittlerweile ist es dunkel geworden. Als die Dörfler im Licht ihrer Laternen die beiden Männer erkennen, entspannen sich die Gesichter. „Hey Hartmut. Hey Karl-Heinz. Ihr seid unsere Kohlekönige. Ein schönes schwarzes Weihnachtsgeschenk habt ihr uns mitgebracht?“ Alle lachen und sind guter Dinge, während sich rasch eine kleine Warteschlange bildet.  „Hört mal kurz zu“, ruft Karl-Heinz.„Bitte kommt der Reihe nach mit eurem Handwagen zu mir oder zu Hartmut an die erste oder zweite Waggontür. Ihr könnt dort eure Körbe oder den Handwagen vollschaufeln. Für jeden sind etwa zweieinhalb Zentner geplant.“

Sehr schnell hat sich alles eingespielt. Zunächst rutscht die Kohle von allein auf den Erdboden nach. Später klettert Hartmut mit ein paar Helfern in den Waggon, um die Kohle hin zum Türbereich zu schippen. Gegen zwanzig Uhr ist die Ladung etwa zu Hälfte gelöscht. Die Kietzer warten ruhig in der Schlange bis sie dran sind. Alle bedanken sich wortreich bei den beiden Männern. Mancher Frau stehen Tränen in den Augen, wenn sie daran denkt, dass sie ab Morgen mit ihrer Familie wieder im Warmen sitzen wird ...

***

... in seiner Neujahrspredigt kommt Pfarrer Tetzlaff zum Ende und spricht zunächst vom biblischen Helden Samson. „Aber“, so fügt er hinzu: „In anderer Gestalt begegnen wir den Samsons von heute überall auf der Erde. Auch hier in Kietz konnten wir zwei Helden am ersten Weihnachtsfeiertag erleben. Denn sie besiegten die Kälte in den Häusern und erwärmten die Herzen ihrer Bewohner. Heute Abend wollen wir die beiden tapferen Männer alle in unser Nachtgebet einschließen.“ Die einsetzende Orgelmusik übertönt das Amen des Pfarrers ...

 

 

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Paul Rehfeld
Grenzbahnhof
Roman, Softcover, 504 Seiten, 19,90 EUR (D)
ISBN 978-3-89998-345-6
www.anthea-verlag.de 
auch im NEB-Shop erhältlich (www.NEB.de/shop)

 

Autorinnenvita:
Paul Rehfeld wurde im Oderbruch geboren. Mehr als zwanzig Jahre hat er in seinem Heimatdorf Kietz verbracht. Schon in den Achtzigerjahren schloss er sich in seiner Freizeit dem Frankfurter Kabarett DIE LINKSKURVE an, verfasste dort erste Texte für Songs und Spielszenen. Heute lebt er in Berlin, fühlt sich mit dem Oderbruch und seinen Menschen noch immer stark verbunden. „GRENZBAHNHOF“ ist sein Debütroman.

 


Foto auf dieser Seite: Paul Rehfeld | Anthea Verlag