Entdecken-Schmökern Lesefutter: Leere Menge

Lässt sich eine Affäre geometrisch darstellen? Eine Familie zeichnen? Können Baumringe von verschwundenen Müttern und Paralleluniversen erzählen? „Leere Menge“ ist ein Versuch, mit der Erfahrung von Verlust umzugehen und sich im Entlieben zu üben.

Eines schönen Tages wachte ich ohne Vorwarnung mitten in einem Ende auf. Ich(I) lag noch im Bett, als Tordo(T), der schon im Türrahmen stand, auf dem Weg zum Unterrichten, zu mir sagte: Du bist nicht mehr dieselbe. Den ganzen Tag versuchte ich zu verstehen, was er damit meinte, und kam nicht aus den Federn. Seit wann war ich nicht mehr dieselbe?

Das kam mir alles ziemlich merkwürdig, ja verdächtig vor. Vielleicht hatte er eine Midlife-Crisis. So war es aber nicht. Bald wurde mir klar, dass jemand, der sagt, ‚Du bist nicht mehr dieselbe‘, eigentlich meint: ‚Ich habe mich in jemand anderen verliebt‘. Das brach mir das Genick. Tordo(T) brach mir das Genick.

Quasi von einem Tag auf den anderen musste ich meine Kleidung in einen Koffer packen, mir ein paar Bücher aussuchen, einen Abschiedsbrief schreiben – um den mich niemand gebeten hatte –, ein Taxi rufen und an den einzigen Ort zurückkehren, an den ich konnte: in Mamas(M) Wohnung.

Ich hatte versucht, diese Wohnung im 3. Stock zu vergessen. Die verstopften Leitungen, die Wegwerfteller und -becher, den Waschplatz auf der Dachterrasse, wo wir hin und wieder unsere Töpfe und Pfannen spülten, die Elektrogeräte mit ihren durchgeschmorten Kabeln und den Badezuber, an den mein Bruder(B) und ich uns gewöhnten, als würden wir in einem anderen Jahrhundert leben. Ich hatte verdrängt, wie sehr die Wohnung mich an ein Paläontologielabor erinnerte: die Staubwaben, die Sammlung von Blumentöpfen mit Skeletten, die einmal Pflanzen gewesen waren, die Wollmäuse, die sich in den Ecken zu merkwürdigen, pelzigen Polstern zusammenballten, die Schmutzmalereien an den Küchenwänden und der Decke, die graue Patina an den Fensterscheiben, ein Resultat unendlich vieler Schichten von getrocknetem Regen, und eine ganze Reihe eigenartiger Mikroorganismen, die in vergessenen Gläsern im Kühlschrank wuchsen.

Wir hätten uns an Papa wenden können, taten es aber nie; weder riefen wir einen Klempner noch jemanden zum Putzen, und wir selbst putzten auch nicht, weil Mama – da waren wir sicher – irgendwelche Spuren hinterlassen würde. Wir taten überhaupt nichts. In der Wohnung blieb alles in der Schwebe, stand die Zeit still. Alles befand sich im selben Zustand wie an dem Tag, an dem wir Mama zum letzten Mal gesehen hatten.

Ich(I) ging also in mein Zimmer und schlüpfte unter die gute alte Humpty-Dumpty-Daunendecke. Und bald fiel mir auf, wie ich durch das plötzliche Ende wieder am Anfang gelandet war. An einem Anfang, oder zumindest an einem früheren Ort, vor Tordo. Das wurde mir klar, als ich mitten in der Nacht die Augen aufschlug und Mama über den Flur gehen hörte. Sie redete in dieser seltsamen und zornigen Sprache vor sich hin, die ich nie hatte entschlüsseln können. Mein Körper richtete sich wie von selbst auf, ich lugte aus meinem Zimmer, konnte aber nur das bläuliche Licht des Computerbildschirms sehen, das den Flur erhellte. Sie war nicht da.

Meinen Bruder(B) konnte man zu später Stunde stets im Arbeitszimmer antreffen. Er litt unter Schlaflosigkeit. Ich(I) glaube, dieses nächtliche Wachen war seine Art, auf Mama zu warten. Er hatte sich mit einem Telefonkabel und Papas Zugangscodes von der Uni eine provisorische Internetverbindung eingerichtet, und weil er befürchtete, dass man ihn beim Duplizieren des Users erwischen könnte, loggte er sich nur in den frühen Morgenstunden ein.

Ich(I) hingegen wachte zuweilen unvermittelt auf, dabei wollte ich gar nicht auf Mama warten, entwickelte aber trotzdem einen so leichten Schlaf, dass ich schon beim geringsten Geräusch hochfuhr. Ich(I) habe meinen Bruder nie gefragt, bin mir aber sicher, dass auch er sie hören konnte. Wenn ich dem Lichtschein folgte, sah ich ihn dasitzen und im Internet surfen; es war ganz so, als wäre ich nie weggewesen, als hätte ich nie bei Tordo gelebt. Alles war wie immer. Da bist du ja wieder, sagte mein Bruder. Ich musste ihm nichts erklären. Niederlagen sind stumm.

 

 

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Verónica Gerber Bicecci
Leere Menge
Aus dem mexikanischen Spanisch von Birgit Weilguny, 224 Seiten, Hardcover
ISBN 978-3-87512-671-6
www.maroverlag.de

 

Autorinnenvita:
Verónica Gerber Bicecci, 1981 in Mexiko geboren, ist eine bildende Künstlerin, die schreibt. Sie nimmt an Ausstellungen teil, schreibt Bücher und unterrichtet. „Leere Menge“ ist das erste Buch, das von ihr in deutscher Sprache erscheint. Für den Roman erhielt sie den 3. Literaturpreis Aura Estrada sowie den Premio Cálamo Otra Mirada.

 


Grafik auf dieser Seite: Verónica Gerber Bicecci | MaroVerlag