Entdecken-Schmökern Lesefutter: Berlin – eine Stadt, die atmet, brüllt und lacht

Pieke Biermanns Berlin-Quartett erwischt die Stadt mitten im Umbruch und erzählt von der heißen Phase 1987 bis 1997. Sinnlich, kratzbürstig, verwegen, poetisch, berlinerisch: ein Großstadt-Jahrzehnt in aufmüpfiger Krimiprosa.

 

KREISCHENDE SIRENEN.

Gellende Menschen.
Piepende Funkgeräte.
Megafongebell.
Bremsen.
Klatschende Wassermassen auf glühendes Metall.
Kracher von immer neuen Explosionen.
Über- und ineinanderschreiende Frequenzen. Aufeinanderprallende Rhythmen. Dringlich. Zwingend. Herrisch. Jedes einzelne Geräusch das einzig legitime Absolute. Alle zusammen eine grauenhafte, bedrohliche Klangwalze. Der Lärm ist nervenzerfetzend.

RETTUNGS- UND LÖSCHFAHRZEUGE in Gelb, Rot und Beige jagen über das riesige ovale Areal. Postieren sich. Feuerwehrmänner mit Atemschutzmasken und Sauerstoffflaschen springen heraus, zupfen silbrige Mondanzüge zurecht, wickeln Schläuche ab, formieren sich, koordinieren die Handspritzen und die Düsen auf den Dächern der gelben und roten Wasserwerfer. Sie setzen jeden ihrer Schritte und Griffe, die sie fast nur von Routineübungen kennen, auf dem Feld, als hieße es heute Juno oder Gold oder Sword oder Utah oder Omaha Beach.

ES IST DAMPFIG UND HEISS wie in der Fabrik von Metropolis. Es ist schweißtreibend und laut wie im Kesselraum der Potemkin. Es ist finster wie auf den Brettern, die Stahlgewitterziegenböcken die Welt bedeuten. Es ist kurz nach zwölf Uhr mittags. Sonnenzeit. Echtzeit.

DER STEWARDESS (selbst eine bezaubernde Vertreterin der Gattung Harlows Töchter) hat es die Blondinenwitze verschlagen, mit denen sie im Normalfall Passagiere und Piloten bei Laune beziehungsweise auf Abstand hält. Im Normalfall hat Ginny auch kein Faible für Feldwebel. Eben deren Ton jedoch hatte sie bis vor wenigen Minuten perfekt über die Lippen gebracht. Ein gutes Dutzend Fluggäste hatte daraufhin nicht etwa stramm-, sondern ebenso perfekt Schlange gestanden. Nämlich vor dem Notausgang der ATR 72, die zwar nichts abgekriegt, aber schleunigst von ihrer Position dicht beim Bauch der Bestie zu verschwinden hatte. Die bezaubernde Ginny war als Letzte aus der Maschine gerutscht, nachdem sie dem
Captain zugeschmettert hatte: »Paxe alle draußen!«

»Was’n getz! Habt ihr die Pulle schon leergekippt oder krieg ich endlich’n Whisky!« Ein letzter Hauch von Feldwebel, bevor Ginny erschöpft zusammensinkt. Auf einem Stuhl im Büro der Eurowings-Verkaufsförderung auf der Galerie der Abfertigungshalle.

UNTEN IN DER HALLE ist die Hölle los. Das Reisegepäck, das sich auf dem langen Förderband vor den Ticketbüros der Fluggesellschaften dreht, wird nur ganz allmählich weniger. Die meisten der gerade noch glücklich Gelandeten finden die anschwellende Panik attraktiver als ihre Taschen und Koffer und stellen sich gaffend zu den Leuten, die auf ankommende Angehörige warten oder abfliegende verabschiedet hatten.

NACH EINER KURZEN BESPRECHUNG mit dem Einsatzleiter der Schutzpolizei, dem Chef des Krematoriums Ruhleben und ein paar Kollegen aus anderen Kommissariaten für Mord, Brand, vermisste Kinder und organisiertes Verbrechen geht der Erste Kriminalhauptkommissar Lietze zur Tür, um das enge Zimmer unter dem Spanndach des berühmten Kleiderbügelgebäudes zu verlassen. »Kommen Sie, Jokisch. Draußen kann man auch eine rauchen!«

Karl-Heinz Jokisch schnappt den Kasten mit den weißen und orangeroten Kärtchen (für eventuelle Beweismittel die einen, für die Füße der Leichen die anderen), hält Lietze die Tür auf, was die mit einem überraschend damenhaften Schwung beantwortet, sieht die Karambolage kommen und kann gerade noch verhindern, dass die Kamera des Polizeivideotrupps ausgerechnet am Chef der dritten Mordkommission zu Bruch geht. Oder schlimmer, umgekehrt.

 

Ein aus Auszug aus Band 4, Vier fünf sechs, aus: 

Pieke Biermann 
Das Berlin-Quartett 
Im Schuber, vier Bände, jeweils gebunden mit Lesebändchen, insgesamt 1.104 Seiten, 50 EUR
ISBN 978-3-86754-255-5
www.argument.de 

 

Autorinnenvita:
Pieke Biermann, Schriftstellerin, Literaturübersetzerin, Journalistin, war ab 1976 Aktivistin der Berliner Frauenbewegung und in den 80ern »Frontfrau« der Hurenbewegung. Für ihre 4 Kriminalromane, das Berlin-Quartett, erhielt sie etliche Auszeichnungen. Sie kann furiose Sprachakrobatik und übersetzte u. a. Liza Cody (Gimme more), Fran Ross (Oreo, Übs-Preis der Leipziger Buchmesse) und Ann Petry.

 


Abbildungen: Monika Schmid | Argument Verlag |