Entdecken-Schmökern Lesefutter: Familie Müller geht fast baden

La dolce vita, aber streng nach Zeitplan! So geht Urlaub für Deutsche. Christian Ritter, umtriebiger Humorist aus Berlin, hat seine Landsleute rund um die Welt beim Urlauben beobachtet und festgestellt: Sie können’s einfach nicht.

Der Wecker klingelt um sieben. Urlaub ist kein Grund, bis in die Puppen im Bett zu bleiben, hat der Familienrat – genauer: Mutter Müller, Vorsitzende und Alleinentscheiderin in dieser pseudodemokratischen Institution – entschieden. Ohne Murren halten sich alle daran. Das frühe Aufstehen birgt enorme Vorteile, zum Beispiel freien Zugriff auf ein jungfräuliches, unbetatschtes Frühstücksbüfett und die favorisierten Plätze am Pool, die nach Annexion am ersten Urlaubstag nicht mehr aus der Hand gegeben werden. Sollten sich andere Gäste der Ferienanlage er- dreisten, die Müller-Liegen für sich zu beanspruchen, würde umgehend an der Rezeption das Gewohnheitsrecht eingeklagt werden, mit Nachdruck und notfalls einem kleinen Schein in der hohlen Hand.

Wie eine Entenprozession watscheln Vater Müller, Mutter Müller, Sohn Müller und Tochter Müller kurz vor halb acht zum Frühstücksraum, lächeln professionell und wünschen „Kalimera“, „Kalimera“, „Kalimera“, „Kalimera“, vier Guten Morgen für einen guten Tag unter der griechischen Sonne an den griechischen Frühstückskellner, der eigentlich Slowene ist, aber das spielt keine Rolle. Die Eierspeisen und Marmeladenbrote werden mit Appetit und Serviette auf dem Schoß verzehrt, Vater Müller berichtet, dass er am Vorabend schon beim ersten Gast von Markus Lanz eingeschlafen ist, was für Mutter Müller keine Neuigkeit darstellt, sie hat den Fernseher ausgestellt. Der Tagesplan wird besprochen, beziehungsweise vorgelegt, Mutter Müller reicht die Handouts herum, die sie sich am Vorabend an der Rezeption hat ausdrucken lassen, Schriftart Times New Roman, Schriftgröße 14, durchgehend gefettet.

Fünfter Urlaubstag

07:30 Uhr: Frühstück im Hotel

08:00 Uhr: Entspannen am Pool

09:30 Uhr: Kulturprogramm

11:00 Uhr: Entspannen am Pool

12:30 Uhr: Mittagessen im Hotel

13:30 Uhr: Entspannen am Pool

15:00 Uhr: Kaffee und Kuchen

15:30 Uhr: Entspannen am Strand

19:00 Uhr: Abendessen im Hotel

20:30 Uhr: Zeit zur freien Verfügung

22:30 Uhr: Nachtruhe (Markus Lanz)

Die Familie studiert das Tagesprogramm andächtig. Auch Mutter Müller vertieft sich noch einmal in das Geschriebene. Vielleicht hat sich unbemerkt ein Fehler eingeschlichen? Hat sich nicht. Mutter Müller ist zufrieden. „Das ist doch der gleiche Plan wie gestern“, sagt Tochter Müller. „Nein, gestern stand ‚Vierter Urlaubstag‘ drüber“, korrigiert Vater Müller. Mutter Müller nickt und bestätigt somit beide. Sohn Müller: „Was ist heute das Kulturprogramm?“ Mutter Müller: „Wir besichtigen eine griechisch-orthodoxe Kirche im Dorf.“ Tochter Müller: „Also auch wie gestern.“ Mutter Müller: „Nein, es ist eine andere Kirche.“ Tochter Müller: „Wie viele griechisch-orthodoxe Kirchen gibt’s denn hier?“ Mutter Müller: „Das zu erfahren, ist Teil unseres Kulturprogramms. Habt ihr euch alle schon auf dem Zimmer eingecremt?“ Reihum wird genickt, und da es 07:58 Uhr ist, werden die Stühle nach hinten geschoben, und es wird sich erhoben, um sich gleich wieder nieder- zulassen beim Entspannen am Pool.

Die vier Liegen an der hinteren Poolrundung, direkt vor der Hibiskushecke der Anlage, bieten die beste Sonnenversorgung zu allen Poolzeiten. Kaum ist die Familie angewatschelt, folgen die wichtigsten Handgriffe des Tages: Die vom Personal bereits aufgespannten Sonnenschirme werden wieder eingeklappt. Man ist ja nicht hier, um im Schatten zu frieren, sondern um sich eine vorzeigbare und nachhaltige Urlaubsbräune abzuholen, schon aus Tradition. Generationen von Müllers – väter- wie mütterlicherseits – waren immer gut gebräunt. Es geht hier um die Familienehre! Die Plätze werden eingenommen, der Körpergröße nach geordnet, von links nach rechts Vater, Sohn, Mutter und Tochter Müller. Jetzt kann endlich entspannt werden. Nach Plan. Die Arme seitlich an den Körpern, Handflächen nach unten, liegen sie regungslos da, wie eingesargt. Der Wecker fürs Kulturprogramm ist schon gestellt. Die Müllers sind zufrieden. Ziemlich. Eigentlich schon, ja, durchaus zufrieden. Sie haben sich und die Sonne. Was will man mehr?

 

Weiterlesen in:

Christian Ritter
Hoffentlich regnet es zu Hause – Wenn Deutsche Urlaub machen
Broschiert, 152 Seiten, 15 EUR
ISBN 978-3-947106-84-4
ww.satyr-verlag.de 

 

Christian Ritter (Jahrgang 1983) lebt als freischaffender Autor in Berlin und ist außerdem viel im deutschsprachigen Raum und weltweit unterwegs. Der deutschsprachige Vizemeister im Poetry Slam moderiert verschiedene Literaturveranstaltungen und ist Teil der Berliner Lesebühne „Zentralkomitee Deluxe“. Von ihm sind bereits zwei Romane im Heyne-Verlag und sieben Kurzgeschichtensammlungen erschienen.

 


Fotos auf dieser Seite: Kerstin Musl | Satyr-Verlag