Entdecken-Schmökern RB25 Heimathelden: Mission possible - Lebensprojekt Bahnhof Werneuchen
Da steh ich auf dem Bahnsteig, wütend in Werneuchen, weil ich im Zug die ganze Fahrt vor dem WC wartete. Jemand hatte sich eingeschlossen, um nie wieder rauszukommen. So ähnlich hatte ich das selbst im Alter von 14 Jahren gemacht, bin mit der Freundin in den Zug gestiegen und nach Berlin abgehauen. Auf der Toilette haben wir uns eingeschlossen, The Cure auf dem Walkman gehört und uns stundenlang mit „Action“-Kosmetik geschminkt – keine Chance für Fahrgäste mit voller Blase! Ich nehme an, die Fahrt heute nach Werneuchen war Karma. Vor dem Bahnhof wartet schon Nora in Jeans und mit Wollmütze in der Kälte. Manche Leute findet man sofort sympathisch und weiß eigentlich gar nicht, wieso. Nora Kempmann wirkt jünger als erwartet, ist fast ein wenig zurückhaltend bei der Begrüßung. Bald wird sie erklären, dass sie mit dem Begriff Heldin für sich nichts anfangen kann. Aber ganz ehrlich? Das sagen sie alle! Krankenschwestern oder Ehrenamtliche, all die Helfenden, die den Laden Brandenburg am Laufen halten. Von denen sagt doch keiner: „Guck hier, ich bin die Super-Heimatheldin!“ Helden-Indizien im Fall von Nora Kempmann könnten sein: die Fähigkeit, Notwendigkeiten zu erkennen, und die Bereitschaft, ins Risiko zu gehen für einen Plan, der über die eigenen Interessen hinaus auch andere Menschen, hier die Bevölkerung von Werneuchen, mit einbezieht.
Falls ich es noch nicht erwähnt habe, Nora hat zusammen mit anderen Brandenburgerinnen und Berlinern den alten Bahnhof in Werneuchen gekauft – ein ruinöses Backsteingebäude, dass die Stadt zwischenzeitlich schon abreißen wollte. „Lass uns schnell Fotos machen, bevor das Licht weg ist“, sag ich, und wir posieren vor dem großen Tor. Es fühlt sich so gestellt an, dass wir kurz lachen müssen. Danach schließt Nora das Tor auf, und der Anblick drinnen sorgt für ein inneres „Ach du meine Güte!“ Da liegen herausgerissene Türen im Weg, die Decken sind teilweise eingefallen. Der Raum nebenan sieht schon besser aus: weiße Wände, trockene Holzdielen. Durch ein Fenster kann ich eine Wiese sehen. Das wird der Biergarten, erklärt Nora: „Immer, wenn ich hier ausgestiegen bin, habe ich diesen Bahnhof gesehen, wie er weiter verfiel.“ Dabei kann das Gebäude noch viel mehr als ein Bahnhof sein: „Treffpunkt und Umschlagplatz für Menschen, Dinge und Ideen“- so schrieb sie es auf der Homepage zum Projekt „Platform Werneuchen“. Ein junger Mann mit Vollbart und Baby in der Bauchtasche steht plötzlich im offenen Tor, wollte mal schauen, was hier ist, sagt er. „Komm ruhig rein!“, antwortet Nora, berichtet vom geplanten Café und Markt mit regionalen Produkten, dem Coworking-Space und Gästezimmern, die hier entstehen sollen.
Für einen Kennenlern-Tag öffnete sie schon einmal dem Bahnhof, die Leute aus Werneuchen haben ihre Ideen für den Ort auf Zetteln dagelassen. „Ein Treffpunkt zum Reden“, stand da zum Beispiel. Damit müsste sich Nora schon aus ihrer Arbeit in der Kulturmarkthalle auskennen. Der gemeinnützige Verein in Berlin ist seit mehr als drei Jahren ein Treffpunkt für alte und neue Bewohner aus den umliegenden Wohnhäusern, in dem zusammen Sport und Musik gemacht wird, oder einfach nur geredet. Das war gerade am Anfang nicht immer einfach, inzwischen sind Vorurteile abgebaut und sogar Arbeitsplätze entstanden. In den ländlichen Regionen bekommt man manchmal das Gefühl, das Zuziehende aus Berlin auch Integrationsvermittlung gebrauchen könnten; es gibt dazu sogar Satire-Videos. Die Mentalität auf dem Land ist so anders als in der Großstadt, dass Zuhören elementar ist, um anzukommen. Nicht jedem ist das klar. Dabei sind gerade die Geschichten, die die Alten hier erzählen können, wichtig. Manche handeln von Enteignungen, von Trauma durch den Krieg, den Kerben in der Seele, die blieben und, oft über Generationen, etwas mit den Orten machen. Das weiß auch Nora, die wenige Kilometer weiter seit zehn Jahren mit der Familie einen alten Vierseitenhof nach und nach instand setzt. Sie kommt mit der Art der Leute hier, die einem oft begegnet – anfangs spröde, allmählich offener werdend – gut klar.
Dass sie neben Brandenburgisch auch Arabisch und Suaheli versteht, würde man nicht als erstes vermuten. An der Berliner TU arbeitet sie in einem Projekt zur Digitalisierung eines Masterstudiengangs und ist Ansprechpartnerin für die Studierenden. Jahrelang lebte und arbeitete sie in Kairo und Dubai, bis sie, wie sie erzählt, das Grün vermisste, die Landstriche und alten Gebäude Brandenburgs, für die sie und ihre Familie schon lange einen Faible haben. Noch hat sie ein Standbein, eine Wohnung in Berlin, aber der Schwerpunkt verlagert sich, auch mit dem Bahnhofsprojekt, Richtung Brandenburg.
Ein Lebensprojekt wird der Bahnhof werden, soviel ist klar. Jahre wird es noch dauern, bis er fertig saniert ist. Auf einen Frühlingsmarkt vorm Gebäude mit regionalen Angeboten kann man sich aber jetzt schon freuen. Mit etwas Glück wird der Gebäudeteil mit dem Biergarten dann im nächsten Jahr nutzbar sein. Und wenn 2024 dann der Regionalzug wie angekündigt noch öfter – jede halbe Stunde – den Bahnhof Werneuchen anfährt, könnte es schnell voll werden im Biergarten.
Nora Kempmann hat Arabistik und Afrikanistik studiert, hat in Dubai im Bildungsbereich gearbeitet und in Berlin den gemeinnützigen Verein Kulturmarkthalle mitbegründet. Sie ist Co-Initiatorin von Platform Werneuchen, einem Team, das den baufälligen Bahnhof sanieren und in einen Multifunktions-Ort umwandeln will. Das Projekt wird im Rahmen des Brandenburger Landvisionen- Programms gefördert.
Jackie A. ist Kolumnistin für das Magazin tip berlin. Für die NEB fährt sie durch Ostbrandenburg und trifft Menschen, die Besonderes für unsere Region schaffen.
Text & Bilder: Jackie A.