Entdecken-Schmökern Lesefutter: Mai bedeutet Wasser

Eine zeitlose Erzählung über die Fähigkeit junger Menschen, sich neu zu erfinden, auch unter noch so schwierigen Umständen.

Kayo Mpoyi: Mai bedeutet Wasser. Roman. Aus dem Schwedischen von Elke Ranzinger. CulturBooks Verlag, September 2021. 264 Seiten, 20 Euro. ISBN: 978-3-95988-154-8 www.culturbooks.de

Am Sonntag wache ich in einem leeren Bett auf. »Mama«, rufe ich aus Gewohnheit und warte, dass sie kurz hereinschaut und dann zu Dina sagt, dass sie mich aus dem Bett holen soll und Brot und Marmelade schon auf dem Tisch stehen. Aus dem Wohnzimmer kommen unbekannte Geräusche, und ich rufe lauter.

»Dina!«

Mein große Schwester Dina wird das Laken wegnehmen, mich ins Bad bringen […] und mir in der Badewanne mit einem Schöpflöffel das Wasser über den Körper gießen, und ich werde losschreien, denn richtig warm ist es nie.

Aber weder Mama noch Dina schauen herein. Mein Protest wird zu einem Kloß im Hals, und in meinen Augen sticht es. Ich kämpfe mit dem Laken, das mich immer fester packt, als ich versuche aufzustehen.

Mein »Maaamaa« läuft vor mir her ins Wohnzimmer, wo nichts mehr wie früher ist. Mama sitzt statt auf dem Sofa auf dem Boden. Auch die Sofakissen liegen dort herum, und Mamas Rücken lehnt an der Wand. Alles im Zimmer ist umgestellt, und die Erwachsenen stehen nach vorne gebeugt da, haben Freudengesichter und schauen auf das Wesen in Mamas Armen. Aus der Decke kommt ein krächzendes Geräusch, wie von hinter Blättern versteckten Krähen.

Ich stürze zu ihr. »Mama!« Aber Dina springt auf und packt mich.

»Pass auf«, faucht sie. »Siehst du das Baby nicht?«

Der schwere Kloß in meinem Hals rutscht in mein Herz und verstärkt mein Traurigkeitsgeheule.

»Schsch, Adi«, sagt Mama. »Schau mal, du hast eine kleine Schwester bekommen.«

Da liegt sie, in Mamas Arm, strampelnd und runzlig.

Mama ya Elombe ist da, ihr Hausmädchen Fatima und unsere Zuri, die jetzt einen Verband am Fuß hat.

»Sie ist wirklich schön.«

»Jemand wollte sie ihnen abkaufen«, erzählt Mama ya Elombe Zuri und Fatima, obwohl die Mamas normalerweise nicht mit den Hausmädchen plaudern.

»Er hat ein Vermögen geboten!«

Zuri und Fatima legen die Hände an den Mund.

»Der Mann war ziemlich merkwürdig«, sagt Mama, ihre Stimme ist schwach. »Ein Inder.«

»Vielleicht hat er geglaubt, dass das Baby weiß ist«, sagt Zuri.

»Ist sie nicht wahnsinnig schön?«, fragt mich Dina.

Das Wesen in Mamas Arm gähnt. Es wendet den Blick zu mir, die Augen sind dunkel.

Es gibt diese Geschichte von der Schlange, die man in meinem Bett gefunden hat, als ich zwei war. Wir waren ein Jahr zuvor nach Binza gezogen, weg von dem ganzen Unglück in Mikondo. Es war 1986, und mit der Familie ging es nun aufwärts. Papas Arbeit an der Universität in Kinshasa hatte auf einer Konferenz bei seinen alten Klassenkameraden aus der Zeit in Brüssel für Aufsehen gesorgt. Er hatte eine Festanstellung als Mathematiker beim zairischen Staat bekommen und wurde sogar als Berater nach Tansania geschickt.  Das Haus in Binza war ein neu gebautes Einfamilienhaus mit rotem Dach, fließendem Wasser und Strom. […] Das Schlafzimmer von Mama und Papa hatte eine Tür zum Garten. Durch diese Tür war die Schlange auf der Flucht vor dem peitschenden Regen hereingeschlängelt. Niemand glaubt, dass ich eine Erinnerung an das Ganze habe. Aber ich kann mich tatsächlich daran erinnern, dass mich Mama zum Schlafen auf ein Handtuch zwischen Kissen gelegt hat. Von irgendwoher hatte ich einen Kugelschreiber, auf dem ich herumkaute. Die Tinte schmeckte bitter. Ich erinnere mich, wie die Schlange zwischen den Kissen hindurchkroch und sich langsam um meine Beine wickelte. Ich heulte los. Ich kann mich an die Augen erinnern. Wegen ihnen ist die Erinnerung so stark. Dieselben Augen wie jetzt.

»Es ist ein Geistwesen, kein Kind«, rufe ich, aber keiner interessiert sich für mich. Der Schreck krallt sich in meinen Kopf. Die bösartigen Augen starren mich an. Ich weiß einfach, uns wird Grauenhaftes zustoßen.

»Ihr habt das falsche Kind heimgebracht!«

Die Erwachsenen lachen.

 

Vita

Kayo Mpoyi lebt in Schweden. Sie wurde 1986 in Zaire (der heutigen Demokratischen Republik Kongo) geboren und wuchs in Tansania auf, bevor sie mit zehn Jahren nach Schweden kam.  Mpoyis facettenreiche, poetisch erzählte Familiengeschichte gewann den Katapultprisen für das »beste schwedische Debüt des Jahres« und basiert auf Mythen und Geschichten, die in ihrer eigenen Familie erzählt wurden.