Entdecken-Schmökern Lesefutter: Die Gerissene

Wie Mira in Marseille Mülltonnen durchwühlte und dabei zur berühmten Modeschöpferin avancierte

Eva Schörkhuber, Die Gerissene. Roman. Edition Atelier, 2021. 232 Seiten, 22 Euro ISBN: 978-3-99065-047-9,

Während der ersten Stunden meines Aufenthaltes in meiner ersten Hafenstadt bin ich von Missgeschicken geradezu heimgesucht worden. Dabei ist das Ankommen in dieser Stadt am Rande des Mittelmeeres äußerst vielversprechend gewesen. Am Vorplatz des Bahnhofs bin ich gestanden, zu meinen Füßen hat sich eine Kaskade aus Steinstufen ergossen, eine prächtige Einladung, hinunter in die Stadt zu steigen. Die Steinlöwen, die die Treppe flankieren, strahlten majestätisch im honiggelben Abendlicht und sprachen mir Kraft und Mut zu. Also habe ich mich auf den Weg gemacht, hinunter in die Stadt. Als ich beinahe am Ende der Steintreppe angelangt war, sprachen mich zwei Männer an. Trotz des goldenen Abendlichts waren ihre Gesichter fahl, wie zwei gehetzte Tiere huschten ihre Augen hin und her. Sie gaben mir zu verstehen, dass sie etwas Geld benötigten, und ich, noch ganz bewegt von dem pompösen Empfang, den diese Stadt mir hier bereitet hatte, zog meine Geldtasche hervor. Noch bevor ich das Fach mit dem Kleingeld öffnen konnte, riss mir einer der Männer die Geldtasche aus der Hand. Dann rannten beide davon, und ich stand mit leeren Händen da. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah ich uniformierte Menschen, mit Maschinengewehren patrouillierten sie vor dem Eingang eines Geldinstituts. Ich ging hin und erklärte ihnen mit Händen und Füßen, durchsetzt von ein paar Brocken Englisch, dass ich gerade ausgeraubt worden sei. Gelangweilt sahen sie mich an, einer zeigte mit einer ausholenden Geste auf ein Gebäude fünfzig Meter weiter. »Police«, sagte er und sah über mich hinweg. Ich ging in die Polizeistation hinein und versuchte mich dort einem Beamten gegenüber verständlich zu machen. Er sah mich an, klopfte mit Zeige- und Mittelfinger auf seine Wange und fragte: »Black?« – »No, white«, sagte ich, und er wollte meinen Ausweis sehen. Sein Blick sprang von meinem Pass in mein Gesicht und wieder zurück. »Très jeune«, murmelte er, und »Marseille is une ville dangerous.« Ich hätte ihm gerne erklärt, dass das nicht stimme, dass das ein Vorurteil sei, das aus den zahlreichen Mafiafilmen stamme, die in und über diese Stadt gedreht worden sind, dass ich das aus zuverlässiger Quelle hätte, von Marie und Asra nämlich, mit denen ich von Mailand bis nach Aix en Provence gefahren war, die das wissen mussten, denn schließlich haben sie lange hier gelebt. All das hätte ich dem Beamten gerne erklärt, aber mir fehlten dazu die Gesten und die Wörter auf Englisch, von Französisch ganz zu schweigen. Ich nickte, wollte aufstehen und gehen, aber da nahm er mich am Arm und meinte: »Not eighteen, tu must stay ici.« »What?«, stieß ich hervor, und er sah mich ernst an: »Tu stay ici, I will appeler your parents.« »But … but I …«, versuchte ich zu protestieren, aber da hatte er mich schon in eine Zelle geschoben und hinter mir abgeschlossen.

Da saß ich nun, in Polizeigewahrsam. Anstatt durch die Stadt zu spazieren, anstatt durch den Hafen zu streunen und das Kommen und Gehen zu beobachten, musste ich mich für die Nacht in dem kleinen kahlen Raum einrichten. Die prächtige Treppe, die sich wie eine Kaskade in die Stadt hinunterergoss, hatte mich schnurstracks ins Gefängnis geführt.

Habe ich mich nicht auch auf den Weg gemacht, um wenn schon nicht ein besseres, so doch ein weiteres Leben zu finden? Und wo war ich gelandet, schon am Tag meiner Ankunft? In Gedanken so kratzig wie die Filzdecken auf den Zellenpritschen war ich verstrickt, als sich die Tür öffnete. Ich sprang auf in der Hoffnung, ich werde nun doch entlassen und könne hinaus, hinaus in die Stadt, hinaus in den Hafen. Die Tür aber hatte sich nicht für mich geöffnet, sondern für einen anderen Menschen, der in die Zelle trottete und auf der Pritsche mir gegenüber Platz nahm. Lang und verfilzt waren seine Haare, so wie die Haare der Leute von der Alten Mühle. Ein paar Wortfetzen stieß der Mensch zwischen den Zähnen hervor. An der Stimme erkannte ich, dass es sich um eine Frau handelte. Nach ein paar Augenblicken hob sie den Kopf, sagte »Bonsoir« und sah mich schief an. »What the fuck ...«, zischte sie, nachdem ihre Augen ein, zwei Blicke lang auf meinem Gesicht geruht hatten. »T’es très jeune, qu’est tu fous ici?«

 

Vita

Eva Schörkhuber, 1982 in St. Pölten geboren, aufgewachsen in Oberösterreich. exil-literaturpreis 2012, Theodor-Körner-Preis 2013, Buchprämie der Stadt Wien 2015, author@musil in Klagenfurt 2020. Literaturwissenschaftliche Promotion über Archiv- und Gedächtnistheorien. Lebt und arbeitet in Wien. Konzeption und Durchführung der Wiener Soundspaziergänge. Redaktionsmitglied bei PS – Politisch Schreiben und Mitglied im Papiertheaterkollektiv Zunder.

Der Text entstammt Eva Schörkhubers Roman Die Gerissene. Hier geht's direkt zum Titel.