Entdecken-Schmökern Heimathelden: Von Nachtigallen und Nachtwächtern
Die Sonne steht tief in Storkow, als ich aus der RB36 steige. Grün und wild wachsen Bäume und Sträucher um das Gelände des Bahnsteigs und eine Nachtigall singt sich die Kehle aus dem Hals. Keine sechs Minuten brauchte ich zur Storchenklause, einer kleinen Gaststätte mit angeschlossener Pension. Hier bin ich mit Detlev Nutsch verabredet. Regelmäßig gibt er Führungen als historischer Nachtwächter, trägt dazu einen dunklen Umhang, Laterne und eine Barke (eine Art Speer), dann wird aus Detlev „Deterinus zu Storkow“.
Als Science-Fiction-Fan konnte ich mit Mittelalter-Aktivitäten allerdings noch nie etwas anfangen und ich konnte mir kaum vorstellen, was daran Spaß machen könnte, Zeiten nachzustellen, in denen es weder vernünftige Zahnärzte, Antibiotikum noch SynthesizerMusik (Depeche Mode!) gab. Um das alles besser zu verstehen, treffe ich mich heute mit Detlev. Wir sitzen am Tisch und was direkt auffällt, ist, dass er beinahe jeden, der durch die Tür der Gaststätte tritt, zu kennen scheint: ein „Hallo, wie geht’s?“ hier, ein aufmunterndes Kopfnicken da – ob nun die Männer aus dem Mittelstandsver-band oder eine ehemalige Kundin aus dem Schuhladen. Und das liegt nicht allein an seiner exotischen Aufgabe als Nachtwächter. Wie sich herausstellt, hat Detlev 30 Jahre lang einen Schuhladen in der Stadt betrieben, ein gesellschaftlicher Dreh- und Angelpunkt, denn Schuhe braucht schließlich jeder mal. Außerdem ist er Stadtverordneter, hat jahrelang in einer Band gespielt, gibt Musikunterricht und wirkt trotz Ruhestand äußerst umtriebig. Ein klassischer Mittelalter-Fan sei er aber nicht, erzählt er. Seine Berufung als Nachtwächter fand er zufällig. Er berichtet, wie die jährliche Nachtwanderung der 5. Klasse seines Sohnes anstand, die er als Elternteil begleiten wollte. Damals fand er, die Kinder sollten einmal etwas anderes erleben, als mit Taschenlampen durch den Wald zu wandern. Und da die Burg in Storkow 2009 gerade frisch restauriert war, beschloss er, diese und einige historische Häuser bei Nacht mit den Kindern zu besuchen. Zuvor sammelte er Informationen zu den Gebäuden, fasste sie auf Flyern zusammen und ließ sie durch die Lehrerinnen verteilen.
Die Inszenierung zum Nachtwächter fiel ihm erst kurz vor der Wanderung ein. Spontan zog er einen dunklen Ledermantel an, setzte einen Zimmermannshut vom Schwiegervater auf, borgte sich die große Laterne aus der Kneipe am Marktplatz – das war die Geburtsstunde des Deterinus zu Storkow. Diesen Willen zum Entertainment muss man natürlich mitbringen, bei Detlev liegt er in der Familie. Schon der Großvater war Musiker und Unterhalter. – Irgendwo muss es ja herkommen! Ich habe mich gefragt, wie der pubertierende Sohn das damals wohl fand, als der Vater zur Nachtwanderung so aufsteppte. Er hatte sich da nicht so exponiert, sagt Detlev und schmunzelt. Die Tour kam dann so gut an, dass Detlev mit Tourismusbüro und Bürgermeister besprach, regelmäßige Führungen anzubieten. Als sich bald darauf der RBB für einen Bericht anmeldete, wurde klar, welche Macht Detlevs Schuhladen-Beziehungen hatten. In Kürze mobilisierte er zig Mitstreiterinnen, die für den geplanten Bericht mitmachten, sich teilweise extra Garderobe besorgten. Vor Ort waren dann Schmiede, Feuerschlucker, Mägde und alle Arten von mittelalterlichen Figuren – sogar eine Schafherde wurde aufgetrieben. Die Begeisterung beim Fernsehteam war groß, aber auch bei den Teilnehmenden selbst, die das gemeinsame Spiel sichtlich genossen. Seither wird bei den nächtlichen Führungen gespielt und gedichtet, es gibt Infotainment und erfundene Geschichten aus dem mittelalterlichen Storkow. Dabei unterstützt ein ganzes Straßentheater: „Die Gefährten der Nacht“, deren Mitglieder allesamt ehrenamtlich spielen. Detlev ist zudem Mitglied in der Gilde der Nachtwächter und Türmer e. V. und wie in fast allen Vereinen sucht man hier händeringend nach Nachwuchs. Nachtwächter-Interessierte können sich also gerne melden! Aber jetzt müssen wir wirklich los, sagt Detlev, denn in wenigen Minuten beginnt seine Führung. Als wir an der Burg ankommen, warten da schon Männer mit schwarzen Kapuzen in Kutten, Nonnen und Marktfrauen mit Spitzenhauben, dazwischen sammeln sich mehr und mehr Neugierige. Gold und Orange leuchtet die Burg in der Dämmerung und als ich zurück zum Bahnhof laufe, sehe ich die Menschenschlange, wie sie dem Nachtwächter mit Laternen in der Hand folgt, bis sie ganz in der Dunkelheit verschwindet.
Detlev Nutsch bietet Führungen als Nachtwächter Deterinus zu Storkow an, mit Unterstützung des Straßentheaters der Gefährten der Nacht. Er ist Stadtverordneter, unterrichtet Musik und hat 30 Jahre einen Schuhladen in Storkow betrieben. www.nachtwaechter-storkow.de
Jackie A. ist Kolumnistin für das Magazin tip berlin. Für die NEB fährt sie durch Ostbrandenburg und trifft Menschen, die Besonderes für unsere Region schaffen.
Text und Fotos: Jackie A.